
Ion Fury ordentlich rangenommen!
Ich öffne meine Augen und befinde mich in einer schicken Chill-Out-Lounge über einer noblen Diskothek, als mich Sekunden später eine gewaltige Explosion aus meiner Feierabendstimmung rausreißt – „You’re lucky I can’t fit a grenade launcher in my bag!“ entfährt es mir Richtung Feuerball, ohne dass ich eigentlich genau weiß, was ich wem damit sagen will…
Sei es drum, ich marschiere schnurstracks durch eine Schiebetür, jage einige Stufen herunter und ballere aus heiterem Himmel ein paar Gestalten in gelben, regenponcho-ähnlichen Kutten über den Haufen. Während ich noch über mein Revolver-Schießeisen staune, lade ich bereits nach und garniere weitere Gelbmönche mit präzisen Kopfschüssen. Grinsend schreite ich Richtung Toiletten und lausche erneut dem schon fast vertrauten Mündungsfeuer meiner Waffe…
So oder so ähnlich werden alle die ersten paar Minuten von Ion Fury erleben – ein rüder Schubser in den Action-Pool der späten 90er! Wäre da nicht die Tatsache, dass das Spiel erst letztes Jahr für den PC herausgekommen ist und die Konsolenfassungen Mitte Mai (digital) und Ende Juni (Retail) 2020 erscheinen. Kaum zu glauben, wenn man sich die perfekt auf Retro getrimmte Präsentation zu Gemüte führt! Doch genau das macht die Atmosphäre von Ion Fury aus, es ist eben ein waschechter First Person-Shooter, dem zu jeder Zeit der Geist von 1996 innewohnt.

Technik, die (größtenteils) begeistert!
Die Pixelgrafik macht einen großen Teil der aufwendigen Produktion aus. So wurde die letztmalig 1999 (!) verwendete Build-Engine reanimiert und feiert in Ion Fury ihr grandioses Comeback.
Die Engine wurde von Ken Silverman 1993 entwickelt. Damals war der Ausnahmeprogrammierer gerade einmal 17 Jahre jung und unterstrich somit eindrucksvoll seine Ambitionen als ernstzunehmender Kollege in dem noch halbwegs jungen Arbeitsbereich der kommerziellen Computer-Software-Nutzung „für zuhause“.
Das erste Mal trat seine Engine in Duke Nukem 3D in Erscheinung und kam für die nicht minder erfolgreichen Titel Shadow Warrior und Blood ebenfalls zum Einsatz. Okay, der Duke war wohl der namenhafteste Vertreter, wofür man sich allerdings bei der damaligen BPjS (die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, heute BPjM) ‚bedanken‘ durfte. Denn vor gut 25 Jahren war es fast Usus, dass First Person-Shooter mit einer ordentlichen Portion Blut ohne größere Umschweife auf dem Index gelandet sind. Oben genannte Titel machten da keine Ausnahme.
Die Jugendfreigabe ist für Ion Fury kein Problem
Heutzutage sieht das zum Glück ganz anders aus. Spätestens seit Doom (2016) und Mortal Kombat X hat sich das Blatt endgültig zugunsten der Spieler gewendet. Der letzte Software-Titel im Mainstream wurde 2016 indiziert (Carmageddon: Max Damage). Das ist somit schon einige Jahre her und wirklich vermisst hat den ziemlich miesen Titel wohl auch kaum jemand.
Ion Fury kommt mit einer FSK „ab 16“-Freigabe ungeschnitten in den Handel. In den Hochzeiten der Build-Engine-Shooter wäre dieser Titel wohl ein sicherer Fall für den Index gewesen. Aber wie sagt man so schön: Andere Zeiten, andere Sitten.

Die Grafik pixelt schön gezeichnet vor sich hin und überrascht immer wieder mit interessanten Interaktionen mit der waschechten 2D-Sprites der Umgebung: Mal kann der Spieler eine Stehlampe anknipsen, einen Getränkeautomaten plündern oder auch einen Computer benutzen. Macht alles Sinn, fügt sich in die Welt wunderbar ein und erfreut vor allem das Retro-Herz! Schön, dass die Liebe zum Detail an fast jeder Ecke zu spüren ist.

Der Soundtrack ist ebenfalls so, wie man es sich von einem solchen Titel erwartet: Wunderbar belanglos! Die Hintergrundmusik dümpelt durchgehend aus der Konsole oder dem Fernseher, ohne irgendwie hängenzubleiben oder großartig zu nerven – auf Wunsch kann man die Audio-Untermalung auch im übersichtlichen Optionsmenü ausschalten, gleiches gilt für die Soundeffekte und One-Liner der Protagonistin. Und das ist irgendwie auch respektabel. Mehr Durchschnitt geht nicht. Die Sounds sind alle nett, die Gegner schreien beim Ableben immer gleich, also gibt es auch hier nichts Besonderes zu vermelden.
Standard ist nicht retro genug…
…zumindest anders kann ich mir beim Test einige Steuerungsformen nicht erklären! Das Spiel darf und soll natürlich so nah wie möglich an die alten Haudegen von vor gut zwei Jahrzehnten rankommen, gar keine Frage. Auch, dass die Story (oh ja, die gibt es!) in Form von „Read me!“-Tafeln im Spielmenü aufgerufen werden kann und es keine echte Introsequenz oder Ähnliches gibt – geschenkt.
Aber: Auch von einem Titel, der sich die Liebe zu anderen Shootern auf die Fahnen geschrieben hat, erwarte ich einfach einen gewissen Standard an Einstellungsmöglichkeiten. So kann man nicht alle Tasten frei konfigurieren und es gibt auch nur zwei verschiedene Steuerungsmuster. Das ist schon mal sehr dünn. Aber die Möglichkeit einer invertierten x- und y-Achse ist absoluter Standard und hat rein gar nichts mit Luxus zu tun – zumindest im Testmuster ist es aber nicht möglich, die Achsen den eigenen Vorlieben entsprechend anzupassen!
Fehlende und ungenaue Steuerungsmöglichkeiten
Und das, meine lieben Switchport-Verantwortlichen, geht absolut gar nicht – denn ich lehne mich mal so weit aus dem Fenster und behaupte, dass ich nicht der einzige Gamer bin, der mit invertierter y-Achse spielt. Dass das jedoch nicht einstellbar ist, ist für mich als Shooter-Veteran mit über 20 Jahren Erfahrung und des „oben-unten-Vertauschens“ fast schon ein k.o.-Kriterium. Denn das kann einem die gesamte Spielerfahrung gründlich versauen!
Ich wäre sehr daran interessiert, den Grund zu erfahren, warum es diese absolut elementare Möglichkeit der Steuerungseinstellung nicht in das fertige Produkt geschafft hat. Denn außer die Gamer aufs Übelste zu verärgern, will mir einfach keine triftige Rechtfertigung einfallen. Da die Steuerung für ein Spiel nun mal grundrelevant ist, fällt dieser Umstand sehr negativ auf.

Die Gyrosteuerung kann bei Bedarf auch aktiviert werden, jedoch erweist sich diese Steuerungsmethode als ziemlich hakelige und ungenaue Angelegenheit. Wobei es bei eingeschaltetem Auto-Aim reicht, einigermaßen in Richtung der Widersacher zu zielen. Die Zielautomatik erledigt dann den Rest. Leider gibt es meist nur recht ähnliche und nicht gerade zahlreiche Gegnertypen zu bestaunen, vor allem in den ersten Leveln. Mehr Abwechslung wäre an dieser Stelle sehr willkommen gewesen, zumal das Setting viel Raum zum kreativen Austoben geboten hätte.
Yippee ki-yay, motherfucker!
Die One-Liner der Frontfrau Shelly „Bombshell“ Harrison (Hauptberuf: professionelle Bombenentschärferin!) sind hingegen so amüsant und asi wie beim blonden Testosteronkumpel Duke Nukem. Markige Sprüche nach dem Ableben eines zerfetzten Kontrahenten sind eher die Regel als die Ausnahme.
Über die nicht vorhandene Tiefgründigkeit bedarf es keiner weiteren Erläuterung, es fetzt einfach ungemein und ist erfrischend primitiv! Genau das und nichts anderes wird von einem Old-School-FPS der markanteren Art aber auch erwartet und wird hier hervorragend umgesetzt. Und wenn die Ohren gut gespitzt werden, hört man schon bald nach Beginn des bleihaltigen Abenteuers die leicht angeraute Macho-Stimme von Jon St. John, der vielen älteren Semestern noch vom bereits vielzitierten Mr. Nukem bekannt sein dürfte. Sehr schön!

Hilfe, wohin mit mir?
Diese Frage dürfte einem des Häufigeren begegnen, sofern man leicht mal Orientierungsprobleme hat. Denn wie es sich gehört, werden kaum Hinweise gegeben, was als nächstes zu tun oder wo der richtige Weg zum Weiterkommen versteckt ist. Gut, ganz so dramatisch wie bei anderen Titeln aus der damaligen Zeit – hervorragend konfus: Hexen – Beyond Heretic! – ist es nicht, jedoch muss man sich tatsächlich etwas reinfuchsen und sich damit abfinden, oftmals sehr alleine gelassen zu werden.
Das ist als kleine Warnung zu verstehen, sofern der Orientierungssinn nicht ganz so ausgeprägt ist und man wenig Lust am akribischen Erkunden der teils weitläufigen Level hat. Erschwert wird das Ganze mitunter dadurch, dass einzelne Abschnitte oftmals nur durch einen kurzen In-Game-Ladebildschirm voneinander getrennt werden. Das hat natürlich den Vorteil, schnell mal in ein zuvor gesäubertes Gebiet zurückzusprinten, um sich mit liegen gelassener Munition und Health-Goodies einzudecken. Die Gesundheit regeneriert sich hier nicht – winke, winke, CoD & Co.! Der Nachteil liegt mit großen Gebieten, die sich teils sehr ähneln, auf der Hand.

Jedoch hat man so die Möglichkeit, immer nochmal eine Runde zu drehen und die größtenteils wirklich bockschwer versteckten Secrets zu lüften. Meist muss zum Öffnen eines Geheimraums ein Schalter o.ä. betätigt oder eine Mauer aufgesprengt oder eine versteckte Tür gefunden werden oder oder oder…! Das macht tatsächlich einen beträchtlichen Teil der Motivation aus, wenn man sich selbst als leidenschaftlicher Jäger und vor allem Sammler sieht.
Man freut sich wie ein Kleinkind, wenn auch das letzte Geheimnis eines Levels aufgedeckt wurde. Diese sind jederzeit in den Spieloptionen einsehbar, die Levelstatistiken können optional auch auf dem HUD angezeigt werden – löblich! Der Weg dorthin kann einen aber bisweilen zur puren Verzweiflung bringen. Aber das scheint wohl auch der Definition eines Secrets geschuldet zu sein.
Multipass? Nein, kein Multipass!
Allen Fans gepflegter Retro-Ballereien sei hiermit gesagt, dass es keinerlei Multiplayer-Modi gibt, welcher Art auch immer. Und nein, noch nicht einmal einen Basic-Deathmatch-Modus! Ziemlich schade, da es sich wohl wie bei kaum einem anderen Titel angeboten hätte, einen fetten Splitscreen-Modus zu integrieren.
Nicht, weil diese Art von Multiplayer das höchste der Gefühle darstellt, sondern um schlicht und ergreifend die Hommage an die 90er zu vervollständigen. Ziemlich unverständlich, warum zumindest diese Option links liegen gelassen wurde. Schön mit ordentlich Geruckel, runtergeschraubtem Detailgrad, Slowdowns, eingeschränkter Sichtweite (gerne auch Nebel) und einem Viertel der eigentlichen Bildschirmausschnitts, wie es die älteren Gamer aus N64-Zeiten noch kennen.
Dazu noch oben und unten am TV die fetten PAL-Balken und fertig ist die Laube mit garantierten Wutausbrüchen und gehässigem Gelächter dreier Kumpels vor der Glotze… Was konnte die miese Technik von anno dazumal doch schön sein!

Aus dem Schwelgen von Erinnerungen wieder in der Gegenwart angekommen, bleibt kurz und knapp festzuhalten: Chance vertan. Jammerschade. Und so bleibt einem nach den ca. 10-15 Stunden unterhaltsamer reiner Soloballerei kaum ein Grund, erneut die Waffen in die Hand zu nehmen.
Bis auf 100%-Jäger, die alle Secrets entdecken wollen, wird einem Ion Fury in schöner, aber eben nicht legendärer Erinnerung bleiben. Doch das ist zumindest mehr, als viele Programme zu bieten haben, die der Vergangenheit nacheifern. Denn da bleibt es oftmals bei dem Versuch, den Retrocharme einzufangen und das Ende des letzten Jahrtausends nochmal auferstehen zu lassen.
Fazit
Pros:
- tolle Hommage und echtes Retro-Feeling
- abwechslungsreiche Level
- knallhart versteckte Secrets
- an den richtigen Stellen gepimpte Game-Engine
- kernige One-Liner tragen zur Atmosphäre bei
- Jon St. John!
- ordentliche Spieldauer (ca. 10-15 Stunden)
- knackiger Schwierigkeitsgrad
Cons:
- Invertieren der Achsen nicht möglich
- Wiederspielwert hält sich in Grenzen
- Multiplayer? Fehlanzeige!
- unspektakuläre Waffenauswahl
- geringe Gegnervielfalt
- mäßige Gyro- und Joy-Con-Steuerung
Mit Ion Fury ist es Voidpoint und 3D Realms gelungen, die Hochzeit der Build-Engine-Shooter zu reanimieren. Das Spiel ist schrill, bunt, laut und mit vielen Anleihen an Blood, dem Duke und weiteren Konsorten versehen. Der Schwierigkeitsgrad lässt auch Action-Veteranen bereits auf der zweiten von insgesamt vier Stufen mächtig ins Schwitzen geraten, denn die Gesundheitsanzeige leert sich teilweise schneller als die Magazine. Wahre Retro-Liebhaber fühlen sich davon ungemein motiviert.

Spieler, die sich nur in modernen Shootern zu Hause wohl fühlen, werden die Software bereits nach wenigen Minuten genervt deinstallieren. Was schade wäre, denn Ion Fury bietet gutes Gameplay, gepaart mit toll designten Leveln und unterhaltsamen Sprüchen der Heldin. Die Steuerung lässt leider große Wünsche übrig, was letztendlich auch einen ganzen Punkt Abzug in der Gesamtwertung bedeutet. Völlig überflüssig, völlig unverständlich! Mit dem Pro Controller spielt sich das Spiel zudem merklich präziser und flüssiger als mit den anderen Steuerungsmöglichkeiten. Ansonsten wird der Generation 30+ eine spannende (Solo-)Reise in die Blütezeit der First-Person-Shooter geboten, die keiner missen sollte!
Das Testmuster wurde uns von Stride PR zur Verfügung gestellt. Vielen Dank dafür!
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